Zuwendung mit Verantwortung
Die Begegnungen sind hier oft so ver - rückt, dass ich denke, ich müsse gleich aus meinem Traum aufwachen. Wir Deutschen leben sehr nach der Superlative, alles muss passend sein, mit der besten Technik und Funktion, wir sichern uns nach allen Seiten ab und legen uns mit unseren Plänen unumstößlich fest und verlieren dabei das ungezwungen, herzliche Miteinander. (Wie ich es auch etwas von Italien kenne). Hier lebt man miteiander, drückt dies auch spontan mit körperlicher Zuwendung aus und mit Komplimenten, für die die renglische Sprache direkt gemacht zu sein scheint. Auf jedes "Danke" muss ein "you are welcome" folgen, die Identität liegt nur im Vornamen, sogar bei der Frau vom Wirtschaftskontrolldienst, die diese Woche gleich 2 mal hier war. Dafür fällt vieles hier unter den Tisch, weil exaktes Planen, Absprechen und Durchziehen häufig der Spontaneität zum Opfer fällt. Ich habe nun öfter leitende Menschen darauf angesprochen. Sie wissen dies und stehen dazu, dass nur eine Seite stark ausgeprägt sein kann. Man nimmt in diesem Land Grenzen eher mit Humor. Wahrscheinlich gibt es bei uns Menschen keine goldene Mitte, ich jedenfalls genieße die emotionale Schlagseite sehr. Beim Gemeindeabend gestern saß eine fremde Frau neben mir. Wir unterhielten uns ein wenig, plötzlich stand sie auf und sagte:"Ich möchte Dich umarmen." (I want to give you a hug). Ein pensionierter Mediziner kommt sporadisch als Hobbygärtner und rief mir heute in den Erdbeerreihen zu, mir als Deutsche müsse man etwas nur einmal sagen, den Canadiern jedoch - ich ergänzte mit 15 mal, was er lächelnd mit 50 mal korrigierte. Ich bin von den Mitarbeiten am meisten mit den Frauen zusammen, weil ich ja auch mittendrin lebe. Die netten Zuwendungen sind die eine Seite, die Verantwortlichkeit und die Regeln des Hauses die andere. Öfter hilft mir, wenn ich mir vorstelle, was würdest mir Du, Isolde, jetzt raten. Als ich heute mit dreien unterwegs war, kam ein netter Befehl. "Du kannst wieder nach D. gehen, aber du musst wieder kommen. Inzwischen suchen wir dir einen canadischen Mann, dann beibst du für immer hier." Evelin, Du bist nicht die einzige, die dies vergeblich versucht hat.
Leider hat Canada jetzt das gleiche Schicksal wie D. Einige Provinzen haben große Überflutungen, die Flüsse sind ja schon normal sehr groß. Direkt hier besteht keine Gefahr, da das Meer das Regenwasser auffängt. Nun freue ich mich auf die Tage in Abbotsford, ich werde nicht nur hingefahren, sondern dort von den beiden auf dem Geburtstagsbild erst mal groß eingeladen.
Der BESUCH war ein voller Erfolg. Nach der besonderen Essenseinladung und Fahrt ein wertvolles Wiedersehen mit Mary nach etwa 15 Jahren, wieder ein Stück Lebenstagebuch. Es war wie ein Heimaturlaub, so viele Deutschstämmige waren da in der Mennonitengemeinde. Ich sang auch im deutschen Chor mit - verrückt alles! In dem modernen Seniorenheim bekam ich die Gästesuite mit 4 Betten und großer Dusche. Nachdem ich seit 6 Wochen nie alleine schlief, war es fast zum Verlaufen.
Von der großen Dachterrasse sah man meinen Mount Baker in den USA. Leider versteckte er sich genau wie das Matterhorn immer wieder hinter einer Wolke.
Ganz toll war, dass Mary herausfand, wohin das Ehepaar umzog, das mir die Arbeitsstelle hier vermittelte. So konnte ich sie auch gleich besuchen und wurde von ihnen wieder hierher gefahren.
Den Empfang kann man nicht beschreiben. Es war wie nach Hause kommen, Freudenrufe, auf mich Zuspringen und Umarmen und ganz persönliche Worte. Wenn es so in D. wird, freue ich mich heute schon. Meine Tour nach Calgary muss ich auf den Herbst verschieben, die Stadt hat den Notstand ausgerufen, total überflutet, auch der schöne Banff Nationalpark. Unser großer Fraser-Fluss beginnt auch die Felder zu überschwemmen, wir liegen auf einer sicheren Höhe. Es regnet sehr viel und immer wieder wolkenbruchartig. Ich werde wieder die trockenen Lücken zum Ernten suchen.
hildewilske am 22. Juni 13
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Verstehen und verstanden werden
Das eine ist die Sprache, wenn bei der schnelleren Kommunikation die Grammatik verknotet oder Worte verdrehen. Wenn sie hier nach Worten für mich suchen, haben wir viel zu lachen. Das andere ist die Mentalität. Weil ich die Indianerin nicht gleich ernst nahm, war sie so sauer, dass ich eine Vermittlerin und 2 Tränen brauchte, bis sie mir verzieh. Solche Krisen verbinden aber noch mehr. Heute machte sie mir im Auto ein tolles Angebot, auf meinen einzigen Koffer bezogen:"Wenn dir deine Unterwäsche nicht reicht, zerschneide ich meine und nähe sie enger." Dann folgte 3 Minuten ihr herzhaftes Lachen. Später legte sie meine Sachen vom Trockner zusammen und schrieb einen tollen Zettel. Ob sie wohl nachgezählt hat. :-) Ich werde auch öfter auf den 2. Weltkrieg angesprochen, nicht vorwurfsvoll, aber betroffen. Ganz andere Verhaltensweisen zeigen sich in diesem Land beim Essen. Die Lebensmittel selbst, die Mengen und dann das Essverhalten, was Kaffee to go auf vieles übertragen bedeutet, ist sehr gewöhnungsbedürftig. Aber das muss ich Euch in life erzählen. Viele Schlösser, Schalter und Geräte werden genau andersrum bedient und das pro Haus oft auch noch verschieden. Ich habe immer noch Bedenken, eine Toilette abzuschließen, ob ich sie von innen wieder öffnen kann. Die meisten arbeiten in meinem Werk hier für ein Taschengeld. Da bin ich mit meinem deutschen Gehalt gut dran, aber ausgeben kann ich im Grünen auch nicht viel. Um die Ecke in der USA ist der wunderschöne Mount Baker. Der Schnee liegt das ganze Jahr fast bis zur Talstation und leuchtet gegen den blauen Himmel und die Frontscheibe beim Fahren. Heute bekam ich ca. 10 wichtige Schlüssel ausgehändigt, ich hätte die nötigen jeweils lieber weiterhin ausgeliehen. Das Vertrauen erstaunt mich immer wieder. Ein Gottesdienst in einer schwarzen Gemeinde hat mir fast die Schuhe ausgezogen, so lebhaft ging es zu. Manche von euch schreiben, dass sie bei mir gerne Mäuschen spielen würden. Ich bin eigentlich wie zuhause, nur klingt es etwas anders. Unser Küchenteam ist eine Supertruppe geworden. Die anderen sprechen schnell, und ich bin beim Arbeiten die Schnellste. Gestern sagte die Kollegin: What would I do without you? Das hat mich so motiviert, dass mir der amerikanische Wunschgeburtstagskuchen prima gelang. Nun habe ich die Tour Richtung Alaska in den ersten beiden Augustwochen dazwischen geschoben, denn hier ist es ca. 10 Grad kälter als in D, aber wenn ich Eure Temperaturen lese, bin ich dankbar.
!!! Es gibt wohl keinen Punkt auf der Welt, an dem man seine Identität verliert. Jetzt werde ich auch hier öfter "Mutter Theresa" genannt - schon wieder Wilhelmsdorf.... Den besten Internetempfang habe ich übrigens in unserer Toilette, jetzt wisst Ihr auch, wo ich gerade sitze. :-) Ob ich wohl als Tourist mit einem anonymen Leben wieder zufrieden sein kann?
DONNERSTAG: Nun läuft schon meine vierte Woche in diesem Gelände, und es gibt immer wieder interessante, neue Herausforderungen. Ich mochte noch nie Muffins, heute sollte ich mal welche aus cornmeal backen. Die schmecken ganz toll, damit verwöhne auch Euch später. Auch Popcorn ist hier viel besser, mit Butter und einem speziellen Salz. Ich werde Kleider wegwerfen müssen, um Platz für Lebensmittel im Koffer zu haben. Man kaut hier immer und überall Kaugummi, das will ich nicht übernehmen. Heute war Außendienst dran, zum Zahnarzt fahren und heute Abend zur Erdbeerparty. Die Gemeinde eine halbe Fahrstunde entfernt hatte zum Frauenabend eingeladen. Ich konnte allein mit 6 Frauen und dem Therapiehund, der die eine immer begleiten muss, losfahren, weil der Abend organisiert war. Liebe Buntspechte, ich fühlte mich wie bei unseren Busfahrten, die ich so vermisse. Alle riefen durcheinander, sangen, wollten mir was erzählen, genau wie du, Marcell. Die Rückfahrt im Dunkeln bei Regen mit den ungewohnten Straßenmarkierungen war nicht so einfach. Auf den Landstraßen gibt es kaum Wegweiser, alles ist in Vierecke eingeteilt, man orientiert sich an den Straßennummern - so wie New York auf der Karte aussieht, eigentlich viel übersichtlicher als in D. Hier wurde die Natur wenig verändert, deshalb geht es ständig rauf und runter, sehr schön.
hildewilske am 17. Juni 13
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Ein besonders guter Tag
Schade, der für mich wertvollsten Bericht ging gestern verloren, weil das Gerät von mir unbemerkt den Flugmodus einschaltete und sich dann aufhängte. So wütend ging ich schon lange nicht mehr ins Bett. Der beste Speicherplatz für Wesentliches ist eben doch das Herz, wo nichts gelöscht werden kann. Ich hoffe, die meisten von Euch haben es vorher gelesen, denn jetzt kann ich nur noch eine kleine Zusammenfassung machen.
Hier unser neues schwarzes Mitglied, die bringt so richtig die Sister act Stimmung rein
Die Einladung zum Grillabend beim Direktor und seiner Frau war ganz wertvoll, mit einem fast deutschen, mehrgängigen Essen nach einem herzlichen Empfang. Er lebte seine ersten 5 Jahre in D., so hatten wir zuerst auch in deutsch Spaß. Ein wertvoller, sehr väterlicher Mensch. Dann kam ein interessantes Fragen und Antworten unter uns 7 Anwesenden.
GEBURTSTAG: Ein tiefgehender Tag mit über 30 mails aus der Heimat, einem Brief, einem besonderen Freundschaftslied und einem Päckchen aus Dänemark. Ganz vielen Dank an Euch lieben Freunde. Und hier den ganzen Tag Zuwendung, Glück und Segenswünsche, Gebete, Blumen, viele Erdbeeren und Schlagsahne. Die Canader gestalten ihre Karten selbst als besonders individuelles Geschenk. Abends sitzt du mit 15 Menschen im Kreis, die du vor 2 Wochen noch nicht kanntest und bekommst Rückmeldungen. Es war einfach schön und unvergesslich.
Hier besonders liebe Gäste
Doch nicht nur in diesem persönlichen Rahmen, die Natur, die Haustüren, die Herzen alles wirkt so offen. Richtung Alaska soll es noch mehr zugewandt sein, weil man sich zum Überleben braucht. Jetzt verstehe ich warum viele immer wieder dieses Land aufsuchen. In die USA komme ich regelmäßig, weil wir dort billiger einkaufen können und jede Person die Einfuhrmenge erhöht. Jetzt ist das Leben hier schon etwas Alltag geworden. Meine lange Teamerfahrung nützt mir natürlich, meine Anregungen werden ernst genommen. Es gibt 2 mal am Tag warmes Essen, die Küche macht zusammen richtig Spaß. Wir ernten und verarbeiten vieles aus dem Garten. Manchmal fehlt mir ein Gläschen Sekt, hier ist total abstinente Zone, und der überteuerte Alkohol alleine in einer Jugendherberge reizt mich nicht. Aber D. soll mich ja auch wieder locken. In einer Woche fahre ich endlich in die nächste Stadt zu meiner Mary, die ich fast 40 Jahre kenne.
SAMSTAG: Morgen habe ich Ruhetag, umso mehr lief heute alles wie am Schnürchen. Vor dem Frühstück kiloweise gespendete Champinions (heißen hier Knopfpilze) angebraten und eingefroren. Später noch mehr kleine rote Paprika haltbar verarbeitet und ca. 10 Blumenkohlköpfe für die Suppe morgen geputzt, in strahlender Sonne viele Erdbeeren gepflückt und versorgt, mit den Frauen spazieren gegangen, das Miteiander genossen, und abends zum Ausgleich mein Tun im großen Blumenbeet beendet. Als ich über einer Gefriertruhe hing, fragte eine fremde Frau, ob ich Hildii aus D. sei. Von mir habe sie schon gehört, ich sei für das Haus ein Segen. Das tat mir wirklich gut, es war die erwachsene Tochter der Hauptverantwortlichen. Ich habe wirklich schon viel gelernt; gut dass ich vorher nicht alles wusste, ich hätte es mir sprachlich nicht zugetraut. Aus Spaß habe ich das Wichteln angefangen, und viele machen begeistert mit. Wenn ich so vor mich hinwerkle, läuft meine Kindheit und Jugend öfter wie ein Film in mir ab. Komisch, mit 60 und hier; ich wünsche mir, dass ich einiges beim Rückflug hier lassen kann. Ansonsten bin ich dabei die Tour Richtung Alaska zu organisieren. Ich genieße meine Freiheit in vollen Zügen, doch die Zeit läuft davon.
hildewilske am 09. Juni 13
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