Samstag, 7. Juni 2014
Große Freude - kleiner Aufwand
6. Juni 2014
Opa Franz stand sommerlich angezogen schon auf dem Parkplatz bereit. Der Verband am Ellbogen stammt vom Sturz, als er seinem davongewehten Hut nach rannte. Präzise leitete er mich auf ihm genau bekannten Schleichwegen in seinen Heimatort Hagnau/Bodensee. Es ging ihm nicht schnell genug. An einer stark befahrenen Straße wollte er aussteigen und mir durch Drücken der Fußgängerampel freie Überfahrt verschaffen. Ich erledigte das erstmals selbst, er hatte seine Gehprobleme total vergessen. Mein Begleiter freute sich riesig über die gute Bergsicht und rutschte oft spontan ins Englische. Ihm kamen unzählige Erinnerungen an seine Kindheit; zu vielen Häusern, Namen und sogar Bäumen wurden Geschichten erzählt und manchmal auch ein Witz. Er sprang mit seinem Bruder aus dem Kinderzimmerfenster direkt in den See, ein Schweinetrog diente als Boot, die Mutter freute sich über den großen Fang von Fröschen wegen der Schenkel usw. In strahlender Sonne, direkt am Ufer schmeckte der Fisch einfach fangfrisch und der Wein vom Weinberg um die Ecke nach mehr. Opa Franz registrierte einfach alles: den sauberen See, Schiffe, Katamaran, Milane, Zeppelin, einzelne Berge und sprach mit Alteingesessenen über alte Zeiten. Dabei bestellte er Wein, den wir im August abholen werden. "Lass uns dann fahren, wenn starker Sturm mit Wellenbrandung ist!" Ich erfuhr wieder Neues, z. B die Zeppelinfahrt im letzten Jahr mit seinem Sohn, die viel zu kurz gewesen sei, 2 Ausflüge auf den Säntis und zum Pfänder.
Trotz starker Hitze hielten wir noch an einem tollen Aussichtspunkt mit weitem Blick über Weinberge, das Dorf, den See und das Bergmassiv dahinter.



Man braucht oft so wenig, um andere und sich selbst glücklich zu machen. Trotz zufriedener Müdigkeit will Opa Franz heute Abend noch ein Spiel der Deutschen Elf anschauen.



Freitag, 30. Mai 2014
Begegnung mit der Vergangenheit
31. Mai 2014
Ich erlebe so viel Existenzielles, dass ich wieder mal schreiben muss. Nach einem tollen Kurzurlaub auf Amrum fuhr ich nahtlos zum Starnberger See. Das christliche Jugendwerk, bei dem ich seit über 40 Jahren sporadisch mithalf und auch für meine Heimtätigkeit mit geprägt wurde, feiert 50-jähriges Jubiläum - ca. 1000 Besucher, 3 Generationen in der Leitung, Begegnungen mit Bekannten aus D und Canada. Hier entstand für mich auch so manche lebenslange Freundschaft.



Die 1. Generation der canadischen Gründer wie gewohnt auf der Bühne zu hören war heimatlich, (vor Jahrzehnten träumte ich hier erstmals vom Reiseland Canada), doch wie hatten sich alle verändert, ich nicht ausgenommen. Dasselbe Gefühl nach 40 gelebten Jahren. Es war wie bei meinem Abschied im Kinderheim, die lange Zeit verschmolz zu einem Lebensmoment. Seit meiner Nordamerikareise ist die Welt viel kleiner geworden, und bei den altvertrauten Begegnungen hier wirkt das Leben schrecklich kurz. Je älter man wird, desto mehr Leute kennt man ja auch auf dem Friedhof.
Ohne Arbeitsverpflichtung lebe ich ja gerade ein außergewöhnliches Leben mit seinen unerschöpflichen Möglichkeiten und Begegnungen. Es vergeht alles noch schneller als im gewohnten Alltag, mich tröstet, dass ich glauben kann, dass es mit Gott ein Mehr gibt - jetzt und später. Am Sonntag bekomme ich einen offiziellen Patenenkel. Nachdem ich aufgrund meines Alters die Patenschaft beim Baby eines Patenkindes ablehnte, trat eine Situation ein, die andere Weichen stellte. Mein Leben wird also weiterhin zwischen den Extremen 0 und 100 verlaufen.
Fast hätte ich etwas vergessen: In meinem Zimmer hier bin ich mit einer mir fremden Frau. Sie sah meine Adresse und erzählte, dass ihre Schwester auch meinen sehr seltenen langen Vornamen hätte. Etwas später kamen wir auf mein Geburtsjahr. Verblüfft fragte sie nach dem Tag und brach in schallendes Gelächter aus. Wir sind genau gleich alt, geboren an einem Pfingstsonntag. Zufall oder ein kleines Wunder?
Abends sagte eine 99 1/2 jährige Nachbarin auf der Bühne ein Grußwort. Heute traf ich sie beim Schneiden ihrer langen Gartenhecke, fröhlich und munter. Alt werden kann doch schön sein!

3. Juni 2014
Opa Franz hatte eine kleine Kreislauschwäche und wollte den Bodenseeausflug auf Freitag verschieben. Also gab es zuerst einen Piccolo auf der Sonnenterrasse, dann zeigte er mir seinen regelmäßigen einstündigen Spazierweg, einschließlich der Grabstätte seiner Frau. Ständig wies er mich auf den Gesang der Vögel, Besonderheiten in den Gärten oder seine Lieblingsstellen in der Natur hin. Der Senior erzählte aus seinem Leben, stellte Fragen oder gab einen Witz zum besten. Bei Kaffe und Kuchen wurde leichte Musik von Franz Lehár, das Lied der Nachtigall, Heinzelmännchens Wachparade ... aufgelegt und Alben angeschaut. Heute gab es sogar einen kleinen Kräuterlikör mit der Bitte, dass ich im nahegelegenen Mövenpick mit ihm noch eine Suppe esse. Dazu zog er sich sonntäglich an und marschierte erneut los. Meine Bedenken, sein Sohn würde ihn beim eventuellen Besuch nicht finden, riefen die Reaktion hervor: "Dann hat er eben Pech gehabt!" Bei der Rückkehr steuerte er auf die Türe seiner Nachbarin zu, sein Tag war noch nicht zu Ende .......



Mittwoch, 30. April 2014
Ein weiteres Highlight
Gleich am nächsten Abend holte ich Opa Franz ins Kino ab. Er war schon in den Startlöchern und hatte Sorge, seine "junge Freundin" könnte ihn vergessen haben. Im Kino gibt es ein kleines Restaurant, in dem schon ein mit mir befreundetes Paar saß. Der Senior ließ sich Suppe und ein Viertele fröhlich schmecken, und wir vier hatten viel zu lachen. Beim Kartenkauf informierte ich erfolgreich das Personal. Opa Franz wurde besonders beachtet und unter dem Filmplakat "Der Hundertjährige" mit einer großen Freikarte fotografiert. Der Filmton wurde für ihn lauter gestellt, so dass die Musik dröhnte. Er genoss seine Rolle sichtlich, was auch das Leinwandchaos bei weitem übertrumpfte. Voll Energie nahm er uns noch mit in seine Wohnung, zeigte zufrieden beim Piccolo seine Werkstücke und bedankte sich beim Abschied nach 23 Uhr überschwänglich. Schade sei es, dass niemand mit ihm seine geliebte klassische Musik, Favorit Beethoven, genieße oder mal Schach spiele. Diese Lebendigkeit im hohen Alter scheint grenzenlos zu sein.

12. Mai 2014
Heute fuhr ich mit Opa Fanz zu Oma Klara, er war pünktlich reisefertig mit einem Sekt in der Tasche. Ich hatte alles für den Kaffee dabei und staunte, dass auch sie alles vorbereitet hatte. Es war hilfreich, dass ihre Nichte auch da war und gut Brücken bauen konnte. Die beiden Senioren waren erst auffallend still, bzw. etwas schüchtern, bis ich sie für das Foto eng nebeneinander setzte.



Dann ging ein reger Dialog los. Er: "Was machen sie, wenn sie hinfallen?"
Sie:"Aufstehen." Er: "Ich muss dann den Notdienst rufen." Sie: "Ich putze eine Wohnung noch auf den Knien." Dann ging es um die 3. Zähne, seit wann und wie gut, um die Hörgeräte, was man nachts träume, um die Krankenkasse, ums Einkaufen, um das sehr lange Leben usw. Er staunte wie fitt sie sei, lag jedoch mit seiner Offenheit vorne und will durch dieTageszeitung stets auf dem Laufenden sein. Ein neuer Termin für einen Sonnentag im Garten entstand schnell. Sie war überglücklich, dass ich den gewünschten roten, kleinen Kater gefunden habe, den ich mit den beiden Frauen im Juni abholen werde. Er wird Benno heißen wie die beiden letzten und darf mit ins Bett. Oma Klara zündet jeden Abend eine Kerze an, läßt sie nachts brennen und schenkte ihrem Altersgenossen gleich eine.
Der freute sich dann im Auto, dass ich heute noch mit ihm Beethoven hören wollte. Da kam ich ins Staunen, ich habe noch nie über eine Stunde schweigend Klassik gehört - bei Sekt, mit Blick über die Terrasse auf den weiten Horizont, vorbei an der wehenden Kanadaflagge, in voller Lautstärke auf einer Bose-Anlage. Toll, das war bestimmt nicht das letzte Mal. Leider läuft sein Sohn bei solcher Musik weg.
Opa Franz hatte begeistert meinen Roman aus Kanada gelesen und wünschte sich gleich den nächsten. Etwas melancholisch erzählte er noch, dass er schon mal lebenssatt sei. Vor dem Weggang aus Toronto sei er den Berg vom See zu seinem Cottage so schnell es ging hochgerannt, um an Herzversagen zu sterben. Der Arzt sagte ihm dann, welch ein Leiden das nach sich ziehen könne, da gab er diese Pläne auf. Im Juni will er mir am Bodensee seine Geburtsstätte zeigen. Nicht schlecht, dass ich jetzt Zeit für solche Abenteuer habe und mich dabei richtig jung fühle ....